Laufsteg

Eindruck aus einer Theatertherapie-Gruppe

Hr. K. ist vor sechs Wochen aus der Klinik entlassen worden. In der ersten Zeit konnte er noch gut von den frischen Erkenntnissen und dem Schwung profitieren. Nun merkt er, wie langsam wieder die Schwere überhand nimmt und das droht, was ihn seit Jahren plagt und was zu einer vorübergehenden Berentung geführt hat (beim einem scheinbar fitten Mann in den 30ern mit zwei kleinen Kindern). Er kann sich immer weniger zu Aktivitäten aufraffen und wenn, erlebt er diese zunehmend als Belastung.

Wir könnten nun in der Gruppe mit Hr. K. darüber sprechen, was die Ursachen sein könnten und wie es passiert ist, dass es ihm wieder schlechter geht. Aber da wir uns in einer ambulanten Theatertherapiegruppe befinden, spielen wir einfach mit der Situation.

Ich frage Hr. K., was er eigentlich gerne tun möchte und was ihm gut tun würde. Er zählt sechs Dinge auf, von „unbegrenztem Fernsehen“ über „mit einem Kumpel in der Kneipe Bier trinken“ bis zu „Sport machen“ und weiteren Dingen. Mit anderen Teilnehmern der Gruppe spielen wir nun eine therapeutische Variante von „Germanys next Top-Model“. Jede/r bekommt eine der sechs Wünsche Hr. Ks. zugeordnet und geht damit über einen imaginären Laufsteg mit ordentlich viel Hüftschwung und (von mir nicht vorgegebenen) Worten wie „Geil, die ganze Nacht Fernsehen und kein Schwein stört sich daran“ oder „in der Kneipe saufen bis der Arzt kommt“. Die Gruppe hat viel Spaß dabei und kommt immer mehr in Fahrt. Hr. K. schmunzelt etwas und wirkt ein wenig leichter. Es ist aber zu spüren, dass er sich auch unwohl fühlt. Auf Nachfrage schildert er, dass es in ihm eine Stimme gibt, die ihm solche Gedanken nicht erlaubt. Eine weitere Teilnehmerin der Gruppe, Fr. N., übernimmt nun die Rolle dieser Stimme und stellt sich direkt hinter Hr. K. Die Modenschau startet nun erneut, wobei jetzt zusätzlich zu den einzelnen Mannequins auf dem Laufsteg auch die innere Stimme von Hr. K. permanent redet: „Ganze Nacht Fernsehen? Dabei verblödest Du ja! Was sollen denn Deine Kinder von Dir denken? Du musst ihnen doch ein Vorbild sein!“ oder „Ja, Biersaufen in der Kneipe! Da ist doch voll asozial! Du wirst zum Alkoholiker, wenn Du so weitermachst“.

Hr. K. sagt: „Ja, genauso läuft es in meinem Kopf ab.“ Wir sprechen dann darüber, wie sich dieses für ihn anfühlt und was er sich wünscht. Mit der Zeit wird deutlicher, wie sehr sich Hr. K. von dieser Stimme im Kopf einschüchtern lässt und wie sehr diese die Regie in seinem Leben übernommen hat. Hr. K. dämmert allmählich, dass es für ihn darum geht, sich eigene Positionen zu erarbeiten und autonomer von seinem Über-Ich zu werden.

So gelingt es ihm dann, in der letzten Spielrunde seine innere Stimme zu begrenzen und sich ein wenig freier zu fühlen.

In den darauffolgenden Wochen erzählt er immer wieder davon, dass es ihm nun leichter fällt, seinen Wünschen und Interessen nachzugehen. Die Depression droht immer wieder, doch Schritt für Schritt (die wir auch häufiger in der Gruppe bearbeiten) kommt er wieder mehr ins Leben, dass er vor einigen Jahren verlassen hatte.

Für Fr. N. ist diese Gruppenstunde eine wichtige Erfahrung. Sie hat sehr viel Angst, sich in Gruppen zu zeigen. In der Rolle der inneren Stimme geht sie aber so auf (vermutlich, weil sie ihr auch ziemlich vertraut ist), dass sie eine Performance hinlegt, die uns fast sprachlos macht. Die Models wechseln sich auf dem Laufsteg permanent ab und Fr. N. muss so auch dauernd zwischen den sechs Themen wechseln. Dieses macht sie so überzeugend und vielfältig, wie ich es selber selten im (professionellen) Improvisationstheater gesehen habe. Diese Erfahrung bildet für Fr. N. einen guten Grundstock in den folgenden Wochen, wenn es um ihre eigenen schwierigen Themen geht.