Einordnung

„Ich dachte, ich kenne alles, was es an Therapien in der Psychiatrie gibt. Aber, Herr Heuer, was ist Theatertherapie?“

Mit diesen Worten eröffnete der Chefarzt der psychiatrischen Abteilung Walsrode (zwischen Hamburg und Hannover) das Vorstellungsgespräch. Ich hatte mich auf die Kunsttherapeutenstelle für die neue Tagesklinik in Soltau beworben. In der Bewerbung wies ich darauf hin, dass die Theatertherapie auch eine Möglichkeit für die Tagesklinik sein könnte – und hatte Glück. Die Neugier war geweckt, ich wurde eingeladen, durfte im Gespräch die Frage des Chefarztes beantworten und bekam die Stelle.

So konnte ich sieben Jahre (von 2002 bis 2009) in der psychiatrischen Tagesklinik Soltau arbeiten. Nach einiger Zeit begann ich auch in der Ambulanz tätig zu sein, was ich bis 2015 tat. Von 2012 bis 2018 war ich vielfältig im sozialpsychiatrischen Setting aktiv (mit Theater und Zeitungsredaktion, aber auch als Sozialarbeiter in verschiedenen Funktionen (Betreutes Wohnen, Tagesstätte, Krisentelefon) . Seit 2018 bin ich wieder als Theatertherapeut tätig, und zwar in der Ameos Klinik Bremen – im allgemeinstationären Bereich sowie in der Ambulanz (sowie eine Zeitlang zusätzlich in der Ameos Klinik Debstedt) und habe so inzwischen mit einer Anzahl von Patienten im vierstelligen Bereich gearbeitet.

In all den Jahren habe ich sehr sehr viele positive Erfahrungen gesammelt – mit einer Art von Arbeit, die in Deutschland überwiegend unbekannt ist. Anders als in England, Holland oder den USA hat sich die Theatertherapie in Deutschland wenig verbreitet. Hier gibt es als etabliertere künstlerische Therapien Tanz-, Musik- und Kunsttherapie.

Die Potentiale der Theatertherapie sind in Deutschland noch weitgehend unbekannt und ungenutzt. Künstlerischen Therapien sind zwar schon hier und da etabliert und stellen vereinzelt sogar wichtige Stützpfeiler der therapeutischen Versorgung dar.

Die Theatertherapie nimmt unter den künstlerischen Therapien insofern auch einen Sonderplatz ein, da sie am Wenigstens über ein „künstlerisches Medium“ verfügt. In der Kunsttherapie kann man gut und meistens schnell in einen künstlerischen Prozess im Malen oder Plastizieren einsteigen. In Musik- und Tanztherapie arbeitet man oft unmittelbar mit der jeweiligen Kunstform. Bei dem einen wird mit einfachen Instrumenten Klänge erzeugt, beim anderen sich bewegt und getanzt. Der Prozess dieser drei künstlerischen Therapien ist in der Regel ganz stark mit dem Erleben der jeweiligen Kunstform verbunden und, was ganz wichtig ist, er ist tendenziell nonverbal. Erst in der Reflexion spielt das Wort wieder eine wichtige Rolle.

In der Theatertherapie sieht das etwas anders aus. Hier gibt keine so starke Trennung zwischen dem Medium und der Alltagsrealität. Ist das Medium bei den anderen Therapien die Farbe des Bildes, der Klang des Instrumentes oder die Bewegung zur Musik, so ist die eigene Sprache nichts außergewöhnliches, nichts fremdes, sondern im Gegenteil etwas alltägliches. Es kommt hier ganz auf die Art des Gebrauches an, nicht auf den Gebrauch selber. Und da der Gebrauch der Sprache jederzeit passiert und in den Gewohnheitsbereich des Menschen gehört, ist die Nähe zur eigenen Persönlichkeit stark. Jede andere Benutzung der Sprache, jedes andere Verhalten stellt ein Infragestellen des „normalen“ Verhaltens dar.

Ich tue etwas auf eine Art und Weise, wie ich es zuvor vielleicht noch nie getan habe. Ich spreche so energisch, lustig, traurig, albern, wie ich es zumindest in der Öffentlichkeit sonst nicht tue. Jede Aktion in der Theatertherapie wird abgeglichen mit den Normen des eigenen Regel-Verhaltens und sofort sind wir mitten im therapeutischen Prozess.

Während die übrigen künstlerischen Therapien häufig ihre Stärke und Besonderheit aus den indirekten und symbolischen Wegen ziehen, gilt dieses für die Theatertherapie nur bedingt. Dafür kann hier ein ständiger Wechsel der Realitätsebenen stattfinden. Es kann ebenso ein Märchen gespielt werden wie ein Arbeitsplatzkonflikt.

Zentral, und damit das Herz der Theatertherapie, ist das Spiel. Wenn wir spielen, befinden wir uns emotional in einem Sonderraum. Wir können kindlich naiv sein, wir können uns Dinge erlauben, die sonst verboten sind, wir können ganz viel Kraft und Freude erleben, wir können ganz traurig werden und vieles vieles mehr.

Theatertherapie heißt häufig:

Wenig tun, große Wirkung.

Die Bandbreite der theatertherapeutischen Möglichkeiten ist enorm groß ist. Im Grunde kann in der Theatertherapie Raum für alles sein. Was ich sage, wie ich es sage, was ich dabei fühle und denke, wie ich mein Verhalten bewerte, wie ich meinen Körper im Sprechen und Handeln erlebe, mein Selbstwert, meine Konflikte, meine Traumen, meine Sehnsüchte, meine Visionen etc …

Theatertherapie kann ganz nah am Alltag sein, mit seinen ganzen Problemen und Schwierigkeiten.

Theatertherapie kann ganz weit und offen sein mit Gedichten, die scheinbar wenig Verbindung zur eigenen Persönlichkeit und Problematik haben.

Theatertherapie kann ganz ernst mit vielen Tränen sein.

Und man kann dort ganz viel Spaß haben, spielen und lachen.

Die Vielfalt der Theatertherapie und ihre Nähe zum Alltag kann sie zu einem sehr erfolgreichen therapeutischen Instrument werden lassen. Die Vielfalt macht es aber nicht einfach, davon zu berichten. Es kann schnell eine verbale Unschärfe entstehen. Fragen, Missverständnisse und Ängste können auftauchen:

Was ist das denn genau? Sind das Rollenspiele? Ist das Soziales Kompetenztraining? Werden Theaterstücke aufgeführt? Das geht doch zu weit! Wofür ist der Spielkram denn nütze?

Ich war und bin in den Jahren in den Kliniken immer sehr frei in meiner Arbeit und dafür bin ich meinen Kollegen sehr dankbar. Es ist überhaupt nicht wichtig, was ich genau tue und mit welchen Mitteln und Methoden ich arbeite. Wichtig ist, dass es den Patienten in ihren Prozessen weiterhilft. Dabei kann ich so viele verschiedene Methoden anwenden, die mir möglich sind. Dieses offene Arbeiten ist eine große Chance. Ich brauche den Patienten nicht in ein methodisches Konzept meiner Arbeit zu zwängen, sondern kann mit ihm zusammen versuchen, den Weg zu gehen, der für ihn hilfreich ist. Diese Art habe ich als einen sehr lebendigen und fruchtbaren Weg erlebt – er macht eine begriffliche Vereinfachung allerdings nicht einfach. Sicherlich gibt es Methoden, wo man sich fragen kann, ob sie überhaupt noch zur Theatertherapie dazu zählen. Diese Frage stellt sich für mich in der Praxis nicht.

Zusätzlich fließen auch einige therapeutische Richtungen mit ein, die ich im Laufe der Zeit kennengelernt habe, sowohl als Klient wie auch als Lernender. Kleinere und größere Spuren finden sich davon in meiner Arbeit wieder (vor allem Gestalttherapie, Biodynamik, Bioenergetik und Hypnotherapie). Ich habe keine dieser Verfahren auf eine herkömmliche Art gelernt, sondern sie eher wie nebenbei aufgenommen, in mir verankert und nutze nun Elemente davon – meistens ohne das selber explizit zu wissen. Ich erwähne es an dieser Stelle nur deshalb, um deutlich zu machen, dass es für mich keine „reine“ Form der Theatertherapie gibt, sondern dieser Begriff der Obertitel ist, der alles zusammen hält. Er ist insofern auch berechtigt, da die zentralen Elemente meiner Arbeit das Spiel und die Bühne (im Sinne eines freien Platzes im Raum, auf den wir in der Gruppe gucken können und auf dem die wichtigen Dinge stattfinden) sind.